Juni 2016 – zu Haus in Süddeutschland regnet es, schwere Unwetter ängstigen die Menschen, Hochwasser, Kälte, Hagelschauer … – hier auf der Insel strahlt vom tiefblauen Himmel die Sonne. Und – es weht der Wind, der leichte frische „Tramontana“. Der Wind, der aus dem Norden kommt.
Ach – dieser Wind, auf unsichtbaren Flügeln trägt er den Duft der Macchia – Thymian, Lavendel, Cistrose, Rosmarin. Ein Duft, der das Herz mit unerfüllbarer Sehnsucht streift. Hören kann ich ihn nicht – ich bin taub – aber ich sehe ja, wie sich Blätter und Zweige wiegen und biegen, die braunen Locken bei dem kleinen Jungen tanzen. Am Strand greift sich der Wind eine grüne Luftmatratze, wirbelt sie über die Wellen – das Kind lacht, die Mutter schreit, und der Vater krault wild der Luftmatratze hinterher – vergeblich! Der Wind wirft sie hoch, spielt mit ihr, trägt sie weit hinaus aufs Meer. Später wird ein Kormoran die grüne Insel als Rastplatz besetzen und seine Flügel zum Trocknen öffnen.
Auf dem Sandplatz hinter dem Supermarkt, im lichten Schatten alter Platanen, spielen Männer Pitanque, Boule oder Boccia. In Frankreich ist es ein Männerspiel. Die schweren Metallkugeln müssen möglichst nah an die kleine „Ziel-Kugel“ kommen. Auf dem festgestampften Boden liegt der rote Ring. Das ist der Startplatz. Halb gebückt, die Kugel in der Faust, Handrücken nach oben, prüft der Werfer den Abstand, scharrt mit dem Fuß den Sand, wie der Kampfstier in der Arena vor dem Angriff – und schleudert die Kugel. Er will nicht nur nahe an die kleine Ziel-Kugel – er versucht auch die gegnerischen Geschosse zu treffen und wegzustoßen. Mit dem Meterstab wird nachgemessen – wer, um Zentimeter genau, der kleinen Kugel am nächsten gekommen ist.
Heute fahren wir mit dem Bus zum Cap Corse – dem „Finger“ von Korsika, der nach Norden weist. Die vielen Kurven fordern bald erste „Opfer“! Spucktüten aus dem Flugzeug wären hilfreich. Kaugummi bremst auch den Brechreiz, und so sieht man bald viele Fahrgäste eifrig mit dem Kiefer wackeln!
Kleine Orte auf der Strecke in die Berge erzählen Geschichten, wie z. B.: Nonza. Hier in der weißen, hochgelegenen Kirche mit weitem Blick über Hügel und Täler wird die „Heilige Julia“ verehrt, die Schutzheilige von ganz Korsika. In der Kirche steht sie in einem durchsichtigen Schrein. Das rote, lange Gewand unterstreicht das blasse, so ernste Gesicht. Sie hat die linke Hand auf die Brust gelegt. Weil sie dem christlichen Glauben nicht abschwören wollte, schnitt man ihr die Brüste ab – so erzählt es eine Legende, und sie starb den Märtyrer-Tod (so um 400 n.Chr.).
Jedes Jahr im Mai findet eine ganz große Prozession durch den kleinen Ort Nonza statt. Heute ist hier keine fromme Prozession – aber eine Autoschlange, die in der engen Straße alles verstopft. Unser Busfahrer hatte nur ganz kurz gehalten, um uns aussteigen zu lassen – dann muss er gleich weiterfahren und wir laufen bald 1 ½ Kilometer – bis wir wieder einsteigen können! „Heilig Julia“!
Vor einigen Jahrzehnten, als hier im Norden der Asbest-Abbau verboten wurde, und die Menschen nur von Fischfang und Seefahrt nicht mehr existieren konnten, wanderten viele Korsen aus dem Ort „Risu“ nach Amerika, Cosatrica, aus. Sie wurden durch den Anbau von Zuckerrohr reich – kamen zurück in ihre Heimat und bauten sich große Häuser. Sie fallen auf unter den kleinen, bescheidenen Häuschen im Dorf. Diese „Rückkehrer“ haben sogar eigene, private Mausoleen für ihre Toten – etwas außerhalb des Dorfes.
Bastia – die große, lebhafte Hafenstadt schließt unsere Rundreise ab. Zu Haus erfrischt noch ein Eintauchen ins Meer vor dem Abendessen. Auf der kleinen Bühne singen und tanzen heute die Kinder – mit glänzenden Augen – sind einfach nicht zum Schlafengehen bereit – aber schließlich werden die Augen kleiner und kleiner, und, halb schlafend schon, werden sie schließlich nach Haus getragen.
Bald beginnt ein neuer Tag auf Korsika, mit Sonne und dem Wind aus dem Norden: „Tramontana.“
Karin Klopfer,
Gast